27 April 2022

Butscha: Anatomie eines Kriegsverbrechens

Business Class Edition: 
Butscha: Anatomie eines Kriegsverbrechens
Guten Morgen,
die meisten Medien sind nach den Gräueltaten von Butscha schnell wieder zur Routine der Kriegsberichterstattung zurückgekehrt: große Empörung, wenige Fakten. Eine tiefere Aufarbeitung der dortigen Ereignisse hat bisher nicht stattgefunden.
Deshalb hat The Pioneer zur Beantwortung der offenen Fragen den profundesten Kenner der Materie, Prof. Sönke Neitzel, ins Pioneer-Studio eingeladen. Er ist seit 2015/16 Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und die Kulturgeschichte der Gewalt; er lehrt und forscht am Historischen Institut der Universität Potsdam.

Internationale Aufmerksamkeit erreichte Prof. Neitzel mit seinem Buch „Abgehört: Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945“, in dem Mitschnitte von Gesprächen hochrangiger deutscher Militärs veröffentlicht wurden, die als Kriegsgefangene in der Nähe von London inhaftiert waren. Auch das Nachfolgeprojekt „Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ sorgte für weltweites Aufsehen. Hier wurden soldatische Gespräche abgelauscht, um die psychologischen Grundstrukturen von Kriegsgewalt offen zu legen. Zuletzt legt er das Buch „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik“ vor.
Nach dem Gespräch mit Prof. Neitzel kann man sich trauen, auf die acht entscheidenden Fragen die entsprechenden Antworten zu geben:

1. Waren die Morde von Butscha das Werk einzelner Soldaten oder gab es dazu einen Befehl von oben?

„Butscha war kein Betriebsunfall“, da ist sich Neitzel aufgrund der bisherigen Informationsauswertung sicher. „Das waren nicht einfach zwei, drei Soldaten, denen die Sicherungen durchgebrannt sind und die dann ‚in the Heat of the Battle‘ Zivilisten erschossen haben.“ Man habe es vielmehr mit einer systematischen Gewalt mindestens eines Regiments gegen Zivilisten zu tun. 

Seiner Schätzung nach waren einige hundert russische Soldaten an den Gräueltaten, die im Verlaufe einer mehrwöchigen Besatzungszeit in Butscha verübt wurden, beteiligt.

2. Gab es einen direkten Befehl von Putin?

Ich glaube nicht, dass es einen direkten Befehl von Putin gab, hunderte von Zivilisten in Butscha umzubringen. Aber ich glaube, dass es eine Kultur der Akzeptanz gibt und dass in der russischen Armee klar ist, was man darf und was man nicht darf.

Und den Soldaten in Butscha sei eben klar gewesen: „Sie dürfen das.“

Am Ende kam es auch offiziell zur Auszeichnung der 64. motorisierten Infanteriebrigade. Putin verlieh nach russischen Angaben den Ehrentitel einer „Garde”. Eine Auszeichnung für „Heldentum, Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut.

Er sagte bei der Zeremonie im Kreml, die am 18. April stattfand:

„Das geschickte und entschlossene Vorgehen des ganzen Personals (der Brigade) während der militärischen Spezialoperation in der Ukraine” sei „Vorbild für die Ausführung der militärischen Pflichten, für Mut, Entschlossenheit und große Professionalität.“

3. Handelt es sich um Kriegsverbrechen oder einen Genozid?

Nicht jedes Kriegsverbrechen ist ein Genozid. Der Unterschied: Kriegsverbrechen stellen schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, also beispielsweise die Misshandlung der Zivilbevölkerung.

Ein Genozid geht weit darüber hinaus und ist ein Synonym für einen Völkermord. Gemeint ist nach der „Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der beabsichtigte und dann auch durchgeführte Mord oder die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe.

Neitzel sagt:

Es geht um die gewollte Vernichtung einer Ethnie.

Dafür sei nicht allein die Tat, sondern schon die Absicht entscheidend:

Die Intention ist ganz wichtig. Gibt es eine Intention zur Tötung eines Volkes oder eines Staatsvolkes, einer Ethnie oder Teilen davon?

Dafür liegen seiner Einschätzung nach in der Ukraine keine ausreichenden Belege vor.

Allerdings: Der Überfall auf die Ukraine, sagt er, stelle nach der Genfer Konvention in ihrer Fassung von 1977 eindeutig ein Kriegsverbrechen dar, denn diese Konvention schreibe explizit die Schonung von Zivilisten vor:

Es können schon Zivilisten umkommen, aber die Armeen müssen die Intention haben, Zivilisten zu schonen. Das sehen wir in Mariupol gewiss nicht.

Man dürfe gemäß der Genfer Konvention keine Versorgungswerke für Zivilisten, Gasversorgung, Wasserversorgung etc. angreifen:

Aber genau das sehen wir in Mariupol. Ein klares Kriegsverbrechen.

4. Wie werden diese Soldaten zum Morden und zum Verwüsten der Häuser incentiviert?

Angesichts geringer Bezahlung und der ins Stocken geratenen russischen Nachschub-Verbände hätten die örtlichen Vorgesetzten die Häuser der Zivilbevölkerung zur Plünderung freigegeben, nicht nur in Butscha. Es handele sich dabei um eine Gratifikation für das Berufsrisiko des Todes. Das sei die in vielen Eroberungsfeldzügen übliche Form der Honorierung.

In der Ukraine habe man Wertgegenstände und in erheblichem Umfang auch Gold aus Privatbesitz in Richtung Weißrussland verschoben. Der Abtransport sei mit Militärfahrzeugen erfolgt. Neitzel beruft sich auf Informationen aus den Nachrichtendiensten: „Diese Region wurde systematisch ausgeplündert“, sagt er. Gold in erheblichem Umfang hat seinen Quellen zufolge die Grenze nach Weißrussland passiert.

5. Welcher Mechanismus sorgt dafür, dass Soldaten zu Bestien werden können?

„Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist”, sagt Neitzel. Die Enthemmung der Enthemmten sei in allen Kriegen – unabhängig von weltanschaulichen Ideologien – gut dokumentiert.

„Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt einem ordentlich, das ist ein feines Gefühl”, berichtet ein Oberleutnant der deutschen Luftwaffe am 17.7.1940 in Kriegsgefangenschaft. Ein einfacher Leutnant wird zitiert mit dem Satz: 

Es war unser Vorfrühstücksvergnügen, einzelne Soldaten mit Maschinen durch die Felder zu jagen und sie dort mit ein paar Kugeln im Kreuz liegen zu lassen.

Neitzel widerspricht der landläufigen Annahme, Soldaten würden erst durch die Kriegserfahrung brutalisiert. Der Militärhistoriker sagt: Oft genüge eine Waffe, ein Flugzeug, Adrenalin und das Gefühl von Macht über Dinge, über die man sonst keine Macht habe. Es gehe „um einen sozialen Rahmen, in dem das Töten erlaubt, ja sogar erwünscht ist”.

Ein Arzt des Reserve-Infanterieregiments 78, Alfred Bauer sein Name, kommt in „Soldaten” zu Wort: 

Wenn die Menschenbestie erst Blut geleckt hat, dann ist es schwer, ihr Zügel anzulegen.

6. Sind die russischen Soldaten besonders brutal, auch im Vergleich zu ihren amerikanischen, britischen und deutschen Berufskollegen?

Es gebe eine gewisse Disposition der russischen Truppen zur Gewalt; das habe man in Afghanistan und auch in Tschetschenien gesehen. Es gebe einen Hang zur „Entgrenzung von Gewalt”.

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