25 April 2022

Der Westen ist naiv: Auch wenn Putin verschwindet, wird sich Russland nicht verändern (NZZ)

Der Westen glaubte nach dem Ende der Sowjetunion, dass ein neues Russland entstanden sei. Das war ein Trugschluss, wie Putin der Welt vor Augen führt. Selbst wenn der Zar gestürzt wird, bleibt der Imperialismus Moskaus.
Von Eric Gujer
01.04.2022

Wer Wladimir Putin für verrückt erklärt, begeht einen doppelten Fehler. Zum einen ist der russische Präsident nicht geisteskrank, nur weil seine Handlungen für den Westen unverständlich sind. Putin folgt seiner eigenen Logik, die sich den Massstäben westlicher Rationalität entzieht. Zum anderen ist es gefährlich, den Krieg zum Werk eines einzelnen Verrückten zu erklären. Natürlich hat Putin in dem von ihm etablierten neozaristischen System eine überragende Bedeutung. Er konzentrierte in zwei Jahrzehnten die ganze Macht bei sich. Dennoch ist der Krieg nicht das Werk eines Mannes.
In der Sowjetunion nannte man die Schicht führender Parteikader und höherer Offiziere in Armee und KGB Nomenklatura. Diese bildete eine in sich geschlossene Gemeinschaft mit besonderen Privilegien und einer eigenen Weltsicht. Nach den Wirren der neunziger Jahre hat sich die Nomenklatura wieder etabliert. Sie teilt Putins Vorstellungen und geniesst die vom Regime gewährten Vergünstigungen. Mit anderen Worten: Sie ist das Regime.
Es herrscht eine vom Ausland gern unterschätzte Kontinuität, weil der Westen nur die wechselnden Figuren im Kreml wahrnimmt, ob sie Gorbatschow, Jelzin oder Putin heissen. Die Weltanschauung der Nomenklatura entstand nicht erst in den Putin-Jahren und erst recht nicht nach dem Feldzug im Donbass und der Annexion der Krim 2014.
Absichtlich zivile Ziele zu bombardieren, ist ein Kriegsverbrechen
Das beste Beispiel für die Konstanz des Denkens und Verhaltens ist die Kriegsführung. Mit Entsetzen sieht die Welt, wie die Streitkräfte in der Ukraine ganze Städte in Schutt und Asche legen. Mariupol steht für eine Taktik fortgesetzter Kriegsverbrechen. Absichtlich werden zivile Ziele beschossen, um den Gegner zu demoralisieren.
Die Generäle nehmen nicht einmal Rücksicht auf die eigenen Soldaten, die ahnungslos in die Schlacht geschickt wurden. Entsprechend niedrig ist die Moral, die Zahl der Verluste hoch. Grossspurig ging die Militärführung von einem schnellen Sieg aus, so dass sie dilettantisch plante und den Nachschub schlecht organisierte.
Wie sehr dieses Bild doch dem ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 ähnelt. Das Symbol der Barbarei hiess damals Grosny. Die Stadt sah aus, als sei eine monströse Dampfwalze über sie hinweggerollt. Rücksichtslos nahm die Artillerie Zivilisten ins Visier, Dörfer wurden in Strafaktionen dem Erdboden gleichgemacht. Die Opfer waren russische Staatsbürger. Moskau hatte die Sezession der Teilrepublik – der eigentliche Kriegsgrund – nie anerkannt.
Die höheren Dienstgrade behandelten die einfachen Soldaten mit einer Mischung aus Inkompetenz und Menschenverachtung. Die Offiziere befahlen, in den Bergen des Kaukasus vorgeschobene Positionen anzulegen, die sich nicht halten liessen und regelmässig in nächtlichen Angriffen der Tschetschenen aufgerieben wurden. Wo die Russen ausharrten, mussten sie in improvisierten Stellungen hausen, in Erdlöchern und eilends ausgehobenen Gräben. Nachschub erhielten sie nur sporadisch, so dass sie sogar ausländische Journalisten um Verbandsmaterial anbettelten.

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