03 August 2023

Der andere Blick Manche nennen es Diktatur – wie der grüne Zeitgeist die Deutschen belagert (NZZ)

Regenbogenfahne am Kanzlerant mit Clau.Roth
Der andere Blick
Manche nennen es Diktatur – wie der grüne Zeitgeist die Deutschen belagert (NZZ)
Die Grünen bauen die Gesellschaft um: mit der Energiewende genauso wie mit der Gendersprache. Sie haben längst die kulturelle Vorherrschaft errungen, etwa in den Medien. Die Mehrheit der Deutschen denkt anders, aber wen kümmert das?
Von Eric Gujer, 28.07.2023
In der deutschen Politik gärt es. Der Höhenflug der AfD ist dafür nur ein Symptom, die eigentliche Ursache liegt woanders. Die Bürger sind der Mischung aus Verboten und moralischen Forderungen überdrüssig, die zunehmend ihr Leben bestimmt.
Die Gesellschaft mutiert zur Erziehungsanstalt, die ihren Insassen beibringt, welches Auto sie fahren, welche Heizung sie benutzen und wie sie korrekt sprechen sollen. Eine Mehrheit der Deutschen lehnt die Abschaltung der restlichen Atomkraftwerke genauso ab wie das erzwungene Aus für den Verbrennungsmotor und für fossile Heizungen.

Sie möchten auch nicht mit Gendersprache behelligt werden. Diese ist zwar im Vergleich zur Zukunft der Energieversorgung ein Detail, aber deswegen umso ärgerlicher. Selbst Jüngere, von den Älteren ganz zu schweigen, lehnen den modischen Firlefanz mehrheitlich ab. Das hindert die öffentlichrechtlichen Sender nicht daran, hingebungsvoll zu gendern, obwohl sie dazu verpflichtet wären, für ihre Zwangskunden Programm zu machen und nicht gegen sie.

Hier äußert sich im Kleinen ein Geist der Belehrung und Bevormundung, der inzwischen die ganze Politik durchzieht. Der Ungeist hat einen Namen: Es ist der grüne Zeitgeist. Dank dem geduldigen Marsch durch die Institutionen reicht er weit über das hinaus, was eine einzelne Partei bestimmen kann. Er ist längst ein gesellschaftliches Phänomen.

Wer nicht grün wählt, macht sich schuldig

Während früher CDU und SPD den vorpolitischen Raum kontrollierten, von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen, haben unterdessen die Grünen die kulturelle Hegemonie erobert.

Während früher CDU und SPD den vorpolitischen Raum kontrollierten, von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen, haben unterdessen die Grünen die kulturelle Hegemonie erobert.

Evangelische Kirchentage lassen sich nicht mehr von grünen Parteitagen unterscheiden: derselbe hohe Ton der Moral, derselbe Endzeitglaube. Ungewiss ist nur, was zuerst kommt – das Jüngste Gericht oder die Klimakatastrophe.

Auch in den Medien schwingt der Zeitgeist sein Zepter. Im öffentlichrechtlichen Rundfunk und im Mainstream der überwiegend linksliberalen privaten Presseerzeugnisse ohnehin, aber selbst bei einem klugen Journalisten einer bürgerlichen Zeitung liest man Folgendes:

«Es wird ernst. Der 6. Juli war wohl der heisseste Tag, den die Erde seit Beginn der Messungen je gesehen hat. Und in einem kleinen Land namens Deutschland erklären CDU und CSU die Grünen zum Hauptgegner. Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen.»

Wer nicht Grüne wählt oder deren Politik billigend in Kauf nimmt, macht sich mitschuldig am Hitzetod der Menschheit. Sehr viele Journalisten denken so.

Sie lassen sich auch nicht dadurch beirren, dass die Katastrophenmeldungen vom heissesten Tag eben nicht auf Messungen beruhen, sondern auf Computermodellen. Solche Modellierungen liefern keine Fakten, sondern im besten Fall plausible Annahmen.

Über diese Modelle müsste eigentlich im Konjunktiv berichtet werden, nicht im Indikativ, wie dies die meisten Medien tun. Aber wer hält sich mit den Regeln seines Handwerks auf, wenn er mal eben kurz die Welt retten muss?

Journalisten und Politiker erzeugen Stimmungen, die man ohne jede Dramatisierung hysterisch nennen kann. Die Mittelmeerländer leiden nicht einfach unter einer Hitzewelle, sondern «der Klimawandel zerstört den Süden Europas. Eine Ära geht zu Ende.» Das schreibt der Italienreisende Karl Lauterbach, der bereits in der Pandemie dem Volk Angst und Schrecken einjagte. Die von ihm herbeigeredeten «Killervarianten» tauchten zwar nie auf – aber Hauptsache, eine Untergangsprophezeiung.

Es ist das unterschwellig Religiöse an diesem Zeitgeist, was vielen Menschen sauer aufstösst und sich nicht nur in den Umfragewerten von rechtspopulistischen Parteien niederschlägt. Der Widerstand dagegen wird stärker und die Wortwahl gröber.

Der Demoskop Manfred Güllner scheut sich nicht, die gegenwärtige Lage als eine «Art Diktatur» zu bezeichnen. Eine kleine elitäre Minderheit der oberen Bildungs- und Einkommensschichten zwinge der grossen Mehrheit der Andersdenkenden ihre Werte auf, resümiert er im Interview mit der «Welt».

Nun herrscht in Deutschland keine Diktatur, nicht einmal eine Art von autoritärer Herrschaft. Was eine wachsende Schar von Wählern verdriesst, ist eine bevormundende Belagerung.

Dem Zeitgeist genügt es nicht, sich auf einzelne wirklich grosse Probleme wie die Energiewende zu konzentrieren. Darüber kann und muss man streiten wie über die Zukunft des Sozialstaats oder die schleichende Deindustrialisierung Deutschlands.

Das sind die dicken Bretter, die zu bohren schon der Soziologe Max Weber der Politik empfahl. Sie allein bedeuten eine Herausforderung. Rational vorgehende Politiker würden Prioritäten setzen und sich auf ein Thema konzentrieren.

Doch die säkulare Religion will mehr und erzeugt damit den Eindruck der permanenten Belagerung. Sie will das Leben in allen seinen Bereichen erfassen und umgestalten. Deswegen widmet sie sich auch vermeintlichen Trivialitäten wie der Gendersprache.

Die Gesellschaftspolitik ist das eigentliche Kampffeld, auf dem sich die Grünen und ihre Vorfeldorganisationen verbissen tummeln. Sie wissen, dass sie nur so kulturelle Hegemonie erlangen und sichern. Den Bürgern gibt das jedoch das Gefühl, Versuchstiere in einem Experiment zur Züchtung des neuen Menschen zu sein.

Der Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes, das schon Jugendlichen die freie Wahl des Geschlechts erlaubt, ist ein Beispiel. Ein anderes ist das Gleichbehandlungsgesetz. Man geht also strategisch vor. Ein Gesetz für sich allein bietet noch keinen Anlass für Fundamentalkritik. In der Summe allerdings schliesst sich der Belagerungsring. So funktioniert Salamitaktik.

Ferda Ataman, die Deutsche als Kartoffeln diskriminiert und deswegen die ideale Beauftragte für dieses Themenfeld ist, will das Gleichbehandlungsgesetz erheblich ausweiten. Die Hürden, um eine Diskriminierung geltend zu machen, sollen gesenkt werden. Zugleich sollen Verbände die Möglichkeit erhalten, auch ohne individuelle Betroffenheit zu klagen.

Ausserdem sollen neue Tatbestände hinzukommen, etwa die Merkmale «sozialer Status» und «Staatsangehörigkeit». Wo es bisher präzise hiess «aus Gründen der Rasse», soll künftig die beliebige Formel «rassistische Zuschreibung» genügen.

Wo ein Himmel ist, existiert auch eine Hölle

Schon heute stempeln unzählige Studien die Deutschen als rassistisch, muslimfeindlich, transphob oder ausländerfeindlich ab. Die Lieblingsformel dieses fragwürdigen Expertentums lautet «strukturell». So fest sich ein Individuum auch bemühen mag, nicht rassistisch oder muslimfeindlich zu sein, macht es sich doch stets der strukturellen, weil gesamtgesellschaftlichen Diskriminierung schuldig – eine perfekte Falle.

Werden die Vorschläge verwirklicht, kann dieser bösartige Blick auf die Deutschen sehr viel einfacher juristisch durchgesetzt werden. Jede Minderheit hat inzwischen eine schlagkräftige Interessenvertretung. Sie alle würden vom Verbandsklagerecht Gebrauch machen, und selbst wenn sie vor Gericht unterliegen würden, könnten sie dies als Beweis von struktureller Diskriminierung werten – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Wie nahtlos kämpferischer Lobbyismus und Justiz schon jetzt zusammengehen, zeigt ein Vorfall in Berlin. Da stellte der Queer-Beauftragte der Landesregierung Strafantrag gegen einen Journalisten, weil dieser das Hissen der Regenbogenflagge vor dem Polizeipräsidium kritisiert hatte. Egal, wie die Sache ausgeht, der Beauftragte erreicht sein Ziel: Die Empörung über so viel Queer-Feindlichkeit wird noch ein bisschen mehr angeheizt.

So schafft sich der grüne Zeitgeist sein Perpetuum mobile, und der Belagerungsring zieht sich noch ein bisschen enger zusammen. Die Menschen fürchten, dass Inflation, lahmende Konjunktur und obendrein die klimagerechte Umgestaltung der Wirtschaft sie zu Verlierern machen: als Arbeitnehmer, Autofahrer, Mieter oder Hausbesitzer. Zu Recht halten sie daher eine Politik, die sich hingebungsvoll um jede Minderheit kümmert, die Sorgen der Mehrheit jedoch ignoriert, für ein Anzeichen von Wohlstandsverwahrlosung. Aber welche Partei nimmt sich dieser Befürchtungen an?

Dass die Untergangspropheten zugleich verkünden, die grosse Transformation werde ohne Wohlstandseinbussen verlaufen, lässt die Bürger erst recht misstrauisch werden. Wo sonst kein Szenario schrill genug und keine Warnung düster genug sein kann, wo jeder Deutsche ein Islamfeind ist und jeder Sommer ein rekordhohes Hitzedebakel, wird plötzlich der Umbau der Industriegesellschaft rosarot ausgemalt.

Solche Widersprüche schüren die Verunsicherung. Aber der grüne Zeitgeist kennt wie jede anständige Religion eine Hölle und einen Himmel. Die Grünen und die ihnen zuneigenden Medien bestimmen, wer der Verdammnis anheimfällt und wer nicht.


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