Die verfügbaren Daten stützen Lindners These. So gab es im Dezember 2010 laut Bundesagentur für Arbeit 1,37 Millionen Kinder (unter 18-Jährige) mit deutschem Pass, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II bezogen, die früher als Hartz IV bekannt waren und heute Bürgergeld heißen. Im März 2023 waren es nur noch 939.000 Kinder – also ein merklicher Rückgang.
Bei den ausländischen Kindern hingegen stieg die Zahl der Empfänger von 304.000 im Dezember 2010 auf 903.000 im März 2023. Diese Daten stammen aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der AfD-Fraktion.
Deutliche Sprünge zeigen sich demnach nach dem Höhepunkt der Migrationskrise 2015 und der massiven Fluchtbewegung aus der Ukraine 2022. Waren es im Dezember 2015 noch 376.000, stieg die Zahl der ausländischen Kinder im SGB-II-Bezug bis Dezember 2018 auf 650.000.
Die Bundesagentur für Arbeit kann seit vielen Jahren keine Zahlen zum Sozialhilfebezug nach Aufenthaltstitel oder Einreiseart zur Verfügung stellen; man kann also nicht ablesen, wie sich die Zahlen jeweils bei Kriegsflüchtlingen, abgelehnten Asylbewerbern oder Familiennachzüglern entwickeln. Auch kann man nicht herauslesen, wie die Arbeitsmarktbeteiligung von irregulär eingereisten Migranten, sich von jener der regulär – also mit Visum oder im Rahmen eines humanitären Aufnahmeprogramms – zugewanderten Personen unterscheidet.
Angesichts der anhaltend prekären Datenlage
diesbezüglich behilft sich die Bundesagentur mit einer Unterkategorie
namens „Acht zugangsstärkste Asylherkunftsländer“. Diese umfassen
Syrien, Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan und Somalia.
Anders als der Name es sagt, sind darin sehr zugangsstarke Asylherkunftsländer wie die Türkei nicht enthalten. Dies ist der Methode geschuldet, denn aus den oben genannten Staaten kamen fast alle hier lebenden Bürger als Asylbewerber. Aus der Türkei kamen und kommen zwar mehr Menschen als Asylbewerber als aus vielen der oben genannten Staaten, aber eben auch viele per Visum und per Familiennachzug zu Angehörigen.
Diese Behelfskategorie der „Acht Asylherkunftsländer“ stützt aber auch Lindners These, denn seit Dezember 2015 wuchs die Zahl der Kinder im „Hartz-IV-Bezug“ aus diesen Ländern von 93.000 auf 395.000 Ende 2018.
Bei den Ukrainern waren es vor dem russischen Angriff Ende Februar 2022 rund 2300 Kinder und im Dezember 2022 dann 261.000. Die Ukraine-Flüchtlinge, überwiegend sind es Frauen, erhalten direkt nach Ankunft einen Schutztitel, ohne ins Asylverfahren zu müssen. Mit der Anerkennung erhalten sie gleichzeitig den Bürgergeld-Anspruch.
Ein beträchtlicher Zusammenhang
Die übrigen Schutzsuchenden „wachsen“ erst verzögert in diese SGB-II-Leistungen hinein. Sie durchlaufen erst die Asylverfahren und erhalten dann mit ihrer Anerkennung, was oft acht Monate nach Einreise der Fall ist, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, die auch einheimische Arbeitslose beziehen. Während der Verfahren erhalten sie Asylbewerberleistungen, die etwas niedriger liegen und auch nicht die volle Gesundheitsversorgung umfassen.
Nach einer Ablehnung erhalten Asylbewerber ebenfalls Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, doch weil sie weit überwiegend zügig nach Ablehnung eine sogenannte Duldung erhalten, steigen ihre Bezüge in der Regel nach anderthalb Jahren auf das übliche Grundsicherungsniveau.
„Nach einem 18-monatigen Aufenthalt muss das Sozialamt automatisch die sogenannten ,Analogleistungen‘ erbringen. Das bedeutet: Die Betroffenen bleiben zwar nach wie vor formal leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, aber es werden nahezu sämtliche Vorschriften der ‚normalen‘ Sozialhilfe des Sozialgesetzbuches auf sie angewandt (höhere Regelbedarfe, Krankenversicherungskarte ohne Einschränkungen beim Behandlungsanspruch, höhere Einkommens- und Vermögensfreibeträge, ausdrückliche Anwendung der Mehrbedarfe)“, heißt es in einer Darstellung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zur geltenden Rechtslage.
All diese über 400.000 Bezieher nach Asylbewerberleistungsgesetz beziehungsweise deren Kinder sind ebenfalls relativ arm, beziehungsweise in ihren ersten 18 Monaten in Deutschland noch ärmer als die übrigen ausländischen oder einheimischen Arbeitslosen-Familien. Deswegen fordern Grüne und Linkspartei sowie einige SPD-Politiker die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die sofortige Anwendung des Bürgergeldes für alle Schutzsuchenden und nicht nur für die aus der Ukraine.
Insgesamt ist der von Lindner behauptete Zusammenhang von Zuwanderung und relativer Armut beträchtlich. Laut WELT vorliegenden Daten der Bundesagentur für Arbeit hatten im März 62 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten – umgangssprachlich Hartz-IV-Empfänger genannt – einen Migrationshintergrund (2.447.515 von insgesamt 3.938.904).
Darunter waren laut der BA-Befragung 1.959.739 „mit eigener Migrationserfahrung“, 426.006 „ohne eigene Migrationserfahrung“ und 61.770 „mit Migrationshintergrund ohne nähere Angabe“. Von allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit Migrationshintergrund waren 1.799.594 Ausländer, die übrigen hatten (nur oder auch) die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die Kategorie der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten umfasst neben Arbeitslosen auch „Aufstocker“, die neben ihrem Erwerbseinkommen noch Sozialleistungen nach SGB II beziehen, weil sie weniger als das sogenannte Existenzminimum verdienen – sei es, weil sie nur wenige Stunden arbeiten oder das Gehalt zu niedrig ist, um die Familie zu versorgen.
Kritik von Grünen und Sozialverbänden
Lindner hatte am Sonntag die Pläne von Familienministerin Paus für die Kindergrundsicherung kritisiert. Die Grünen-Politikerin will damit staatliche Leistungen für Familien, die von Sozialhilfe leben, erhöhen und zusammenfassen.
Er wolle gerne diskutieren, wie man den betreffenden Kindern am besten helfen könne, so Lindner. „Hilft man ihnen am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist?“, fragte er. „Oder ist nicht vielleicht mindestens diskussionswürdig, in die Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren und die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?“
Am Dienstag wiederholte er seine Kernthese im Radiosender Bayern 2: „Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kinderarmut.“
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte am Montagabend bei einer Veranstaltung des Nachrichtenportals „The Pioneer“, die Kindergrundsicherung sei aus ihrer Sicht gerade in diesen Zeiten ein „enorm wichtiges Projekt“. Anders als in anderen Ländern gebe es in Deutschland „verdeckte Armut“. Das heiße nicht, dass gehungert werden müsse, sondern dass Teilhabe nicht möglich sei. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) kritisierte: „Offenbar wollen einige in der FDP die Bekämpfung von Kinderarmut an die Herkunft der Eltern knüpfen.“
Heftige Kritik erntete Lindner von Sozialverbänden. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, sagte der „Stuttgarter Zeitung“: „Ich halte es für unsäglich, wenn der Finanzminister nun anfängt, arme Kinder aus Deutschland auszuspielen gegen die Kinder, die mit ihren Familien aus der Ukraine zu uns flüchten mussten.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen