30 August 2024

Der andere Blick - Der deutsche Traum von der Multikulti-Vielfalt ist geplatzt. Nach Solingen muss Sicherheit an oberster Stelle stehen (NZZ)

Der andere Blick
Der deutsche Traum von der Multikulti-Vielfalt ist geplatzt. Nach Solingen muss Sicherheit an oberster Stelle stehen (NZZ)
Wieder hat ein Migrant in Deutschland gemordet. Die Asylpolitik ist längst dysfunktional: Die Verwaltung ist überfordert, die Gesellschaft ist in Angst.
Eric Gujer 30.08.2024, Lesezeit 6 min.
Als der syrische Terrorist zustach und drei Menschen tötete, feierte Solingen wie jedes Jahr sein «Festival der Vielfalt». Tim Kurzbach, damals wie heute Bürgermeister der Stadt, gab sich 2017 der Hoffnung hin, «dass wir nicht denjenigen recht geben, die immer auf Angst setzen, dass wir nicht mehr Grenzen brauchen und schon gar keine Obergrenzen».
Offenkundig hat es Deutschland mit der Vielfalt übertrieben. Die Angst vor Messerstechern und ungeregelter Migration erreicht einen neuen Höhepunkt. Jedes Land benötigt Grenzen: Aussengrenzen, um den Zustrom von Risikopersonen zu verhindern. Dazu gehören Migranten wie Issa al-Hasan in Solingen. Er hätte sich nie in Deutschland aufhalten dürfen, weil er bereits in Bulgarien als Asylbewerber registriert war.
Aber auch Grenzen im übertragenen Sinn einer Leitkultur. Wer deren Normen verletzt, muss mit Sanktionen belegt werden. Ein zentraler Wert der deutschen Leitkultur ist der Respekt vor dem Rechtsstaat. Doch der macht sich in Deutschland selbst zum Gespött.

Als Gast darf nur geduldet werden, wer sich an die Spielregeln hält

Um seiner Ausschaffung nach Bulgarien zu entgehen, tauchte Hasan unter. Kaum war die Frist verstrichen, in der die Abschiebung in ein anderes EU-Land möglich ist, kehrte er in seine Unterkunft zurück. Trotzdem blieb er unbehelligt.

Deutlicher hätte die Asylbürokratie nicht machen können, dass der deutsche Rechtsstaat ein unverbindliches Angebot ist, bei dem der Migrant selbst entscheidet, was er daraus macht. Niemand schrieb den Syrer zur Fahndung aus. Niemand liess ihn spüren, dass nur der als Gast geduldet ist, der sich an die Spielregeln hält.

Vermutlich hatte man Hasan aus den Augen verloren, so wie andere Flüchtlinge auch, die später zu Mördern wurden. Angesichts der Fülle von Fällen ist die Asylmigration der Verwaltung über den Kopf gewachsen. Vielfalt ist längst ein Synonym für Chaos.

Hinter der Schwäche des Rechtsstaats steht eine Ideologie, die Vielfalt absolut setzt. Propagiert wird sie von Politikern wie der Vizepräsidentin des Bundestags, Katrin Göring-Eckardt, und ihrer Partei, den Grünen. Beglückt schrieb sie auf X über die deutsche Fussball-Nationalmannschaft: «Stellt Euch kurz vor, da wären nur weisse deutsche Spieler.»

Vertreten wird die Ideologie auch von unzähligen Unternehmen, die Vielfalt – veredelt zum Modewort Diversität – als oberstes Ziel der Personalplanung feiern und sich keine Werbung ohne Models in sämtlichen Hautschattierungen vorstellen können. Sie vergessen dabei, dass jeder soziale Grossverband Stabilität benötigt, wie sie nur ein Mindestmass an Homogenität schaffen kann. Vielfalt bedeutet Bereicherung, aber sie birgt auch Risiken. Diese sind im realen Leben spürbar – anders als in der Traumwelt des Diversity-Marketings.

Der Gegensatz zu grenzenloser Vielfalt ist nicht Einfalt, sondern eine Pluralität mit verbindlichen Normen. Diese unterscheidet sich bewusst von der ungehinderten Entfaltung jeder Minderheit ohne Rücksicht auf andere. Doch diese falsch verstandene Form von Toleranz wird neuerdings als Wesensmerkmal der Demokratie ausgegeben.

Die Propheten einer angeblich liberalen (und in Wirklichkeit oft nur beliebigen) Demokratie werten die Teilhabe aller, die es irgendwie nach Europa geschafft haben, bewusst höher als die Kohäsion des Staates. Entsprechend hat die Ampelkoalition die Erfordernisse für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft noch einmal massiv gesenkt.

Demokratie wird pervertiert, wenn sie ausschliesslich von den Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen her gedacht wird. Aristoteles begriff die Demokratie explizit als Staatsform und nicht als Plattform für maximale Selbstverwirklichung; er dachte sie von der Gesellschaft her. Funktionsfähigkeit und Sicherheit des Staates standen für ihn an erster Stelle.

Grenzenlose Identitätspolitik und grenzenlose Einwanderung haben eine gemeinsame Wurzel: Die Freiheit des Individuums hat immer Vorrang vor den Ansprüchen der Gesellschaft. Demnach ist es nicht möglich, irregulär eingereiste Migranten auszuweisen, und sei es nach Syrien oder Afghanistan. So wie es generell nicht möglich ist, bei Fehlverhalten wirksame Sanktionen zu verhängen. Die Rechte des Betroffenen könnten sonst geschmälert werden. Die Funktionsfähigkeit des Staates und das Sicherheitsgefühl der Bürger sind nachrangig. Stattdessen versteckt man sich hinter dem Asyl-Artikel im Grundgesetz, als liesse sich dieser nicht ändern.

In seltsamem Widerspruch zur Überhöhung des Individuums wird dieses von jeder Verantwortung für sein Tun freigesprochen. Um die höhere Gewaltneigung von Syrern und Afghanen zu entschuldigen, heisst es dann, Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten seien nun einmal traumatisiert. Das würde allenfalls rechtfertigen, sie zu überwachen und möglichst schnell in die Heimat zurückzubringen, nicht aber, die zumeist jungen und alleinstehenden Männer ohne Vorsichtsmassnahmen auf die Gesellschaft loszulassen.

Warum zeigten tamilische Flüchtlinge keine überproportionale Gewaltbereitschaft, obwohl sie dem Bürgerkrieg in Sri Lanka entkommen waren? Wie schnell jemand zum Messer greift, hängt auch von Kultur und Religion des Herkunftslandes ab. Der politisierte Islam ist eine mörderische Ideologie. Mehrere Bundesregierungen haben das sträflich unterschätzt. Die Bürger zahlen dafür heute einen hohen Preis.

Die Regierung bekämpft Symptome, statt die innere Sicherheit zu stärken

Solange die relativierende und beschönigende Geisteshaltung in Deutschland dominiert, gehen alle seit dem Terroranschlag von Solingen diskutierten Gesetzesverschärfungen ins Leere. Die strengsten Gesetze nützen nichts, wenn der Rechtsstaat diese selbst unterläuft – durch bürokratischen Wirrwarr oder durch ihre lasche Anwendung.

Die Bundesrepublik weicht seit der Migrationskrise 2015 der Kardinalfrage aus: Will sie überhaupt noch ein Land sein, in dem sich Homogenität und Pluralität die Waage halten, oder versteht sie sich als grosszügiges Angebot an alle, die ein besseres Leben suchen? Ist Deutschland der Wühltisch unter den Nationen, wo sich jeder aussucht, was ihm passt?

Vor zwei Jahrzehnten wäre die Antwort noch klar gewesen. Inzwischen gilt es fast schon als obszön, wenn man der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft Priorität einräumt, selbst wenn das mit Härten für Einzelne verbunden ist. Andere EU-Länder haben die Politikwende vollzogen. Finnland erlaubt jetzt Pushbacks an der Grenze zu Russland, weil Moskau die Migration als Waffe einsetzt. Es ist ein Akt der Notwehr.

Einzelfallgerechtigkeit ist eine deutsche Passion und wird in der Sozialpolitik obsessiv ausgelebt. Aber bei der Zuwanderung muss wie in allen anderen Bereichen der äusseren Sicherheit der Schutz der Bevölkerung an oberster Stelle stehen.

Erst wenn dieser Paradigmenwechsel vollzogen ist, wird sich die Migrationspolitik spürbar verändern. Dann ist es keine Frage mehr, ob Aufnahmeverfahren an den Aussengrenzen der EU oder in Drittstaaten abgewickelt werden können. Dann stellt sich auch die Frage nicht, ob ein Aufnahmestopp für Syrer und Afghanen verhängt werden kann. Dann wird jede Idee zur Steuerung der Asyleinwanderung nicht so lange zerredet und unter juristischen Bedenken begraben, bis nur noch ein Minimalkompromiss übrig ist.

Was im Gesetzblatt steht, ist nachrangig, wenn sich in den Köpfen nichts bewegt. In den Köpfen von Grünen und Sozialdemokraten bewegt sich wenig. So erklärt die SPD-Chefin Saskia Esken zu Solingen ungerührt: «Aus dem Anschlag lässt sich nicht viel lernen.»

Es wundert daher nicht, dass Innenministerin Nancy Faeser seit dem Polizistenmord in Mannheim über Monate nicht in der Lage war, ein kohärentes Programm auszuarbeiten. Ihr Vorschlag, bei mitgeführten Messern die Klingenlänge auf sechs Zentimeter zu begrenzen, wirkt wie eine Karikatur: Symptombekämpfung statt innere Sicherheit. Erst unter dem Eindruck von Solingen bequemt sich die Bundesregierung, ein Sicherheitspaket vorzulegen. Die darin enthaltenen Massnahmen sind jedoch mehr Kosmetik als eine substanzielle Verbesserung.

Auch der Oppositionsführer Friedrich Merz muss erst zeigen, wie ernst es ihm mit seinem eilends kreierten Slogan «Es reicht!» ist. Solingen liegt in Nordrhein-Westfalen, und da regiert der CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst zusammen mit den Grünen. Um seinen Koalitionspartner nicht zu verprellen, erweist sich Wüst in der Migrationspolitik als sehr geschmeidig. Bei der Einwanderung übertrifft niemand die Wendehälse von der CDU an Opportunismus. Dass es dem Parteichef Merz wirklich reicht, wissen die Wähler erst, wenn er vor der nächsten Bundestagswahl eine Koalition mit den Grünen in Berlin ausschliesst.

Bis anhin konnte man Thilo Sarrazins Schlachtruf «Deutschland schafft sich ab» noch als Alarmismus abtun. Wenn aber aus Mannheim, Solingen und der Vielzahl der weniger prominenten Fälle keine nachhaltigen Konsequenzen gezogen werden, dann mündet die deutsche Migrationspolitik tatsächlich in der Selbstaufgabe.

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