29 September 2023

Der andere Blick - Deutschland braucht mehr Realismus bei Migration und Klima, aber ein Machtkartell verhindert den Politikwechsel (NZZ)

Der andere Blick
Deutschland braucht mehr Realismus bei Migration und Klima, aber ein Machtkartell verhindert den Politikwechsel (NZZ)
Wegen der Popularität der AfD reagieren die deutschen Altparteien hysterisch. Dabei gäbe es ein einfaches Gegenmittel: weniger Ideologie in der Einwanderungs- und Energiepolitik. Doch es ist leichter, auf die Rechten zu schimpfen, als etwas zu ändern.
Eric Gujer,
In Berlin hat das grosse Muffensausen begonnen. Die Umfragewerte der AfD steigen kontinuierlich, und allmählich wachen die etablierten Parteien aus ihrem Dämmerschlaf auf. Die AfD ist eine fremdenfeindliche und in Teilen rechtsextremistische Truppe, aber sie erfüllt trotz allem einen wichtigen Zweck. Im besten Fall spielt sie die Rolle des nützlichen Idioten.
Durch ihre bisher mehr gefühlten als realen Erfolge zwingt die Partei zur Diskussion über Themen, die den Wählern augenscheinlich wichtig sind, die aber in der politischen Debatte verdrängt werden. Entgegen der landläufigen Meinung gefährdet die AfD auf diese Weise nicht die Demokratie, sondern trägt zu ihrer Stärkung und Erneuerung bei.
Überfremdungsängste sind aktuell und konkret
Ein Machtkartell verhindert Änderungen in zwei Bereichen, obwohl die Unzufriedenheit der Bürger hier noch schneller wächst als die Popularität der Rechtspopulisten: in der Migrationspolitik sowie der nicht minder dysfunktionalen deutschen Klima- und Energiepolitik.

Beide Themen berühren den Kernbereich der Lebensführung: Muss ich mich fremd im eigenen Land fühlen? Muss ich fürchten, dass der lange Arm des Staates bis in den Heizungskeller reicht? Es geht um Identität und die Frage, ob in der schönen neuen Welt noch Platz für herkömmliche Lebensentwürfe ist.

Die Regierung und die Unionsparteien bilden eine Schweigegemeinschaft, weil sie für die gemachten Fehler gleichermassen verantwortlich sind. Der Verzicht auf die Atomenergie war ein rot-grünes Projekt, das von Angela Merkel radikalisiert wurde. Die aus dem Ruder gelaufene Öffnung Deutschlands für Armutsmigranten geht wesentlich auf Merkels Willkommenskultur zurück, doch entspricht diese einem Herzensanliegen der Grünen.

Kein Wunder also, dass sich die Altparteien mit Kurskorrekturen schwertun und mit ihrem durch rituelle Attacken nur mühsam kaschierten Kartell fortfahren möchten. Die «Brandmauer gegen rechts» ist eben auch eine Brandmauer gegen Veränderungen.

Doch wie es bei jeder Realitätsverweigerung so ist: Irgendwann fressen sich die Fakten durch. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine und zugleich die Armutsmigranten aus Afrika und Westasien übersteigen die Kräfte der Gemeinden.

Wenn in einem 500-Seelen-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ein Containerlager für 400 Neuankömmlinge errichtet werden soll, wird der in Deutschland lange verpönte Begriff der Überfremdungsangst plötzlich aktuell und konkret fassbar.

Da braucht es keine gelehrten Abhandlungen über die Weimarer Republik und die Gefährdung der Demokratie durch rechtsextreme Agitatoren. Da genügt eigentlich gesunder Menschenverstand, um zu spüren, dass eine solche Überforderung auf Dauer nicht gutgeht.

Die Überfremdungsängste sind auch nicht das Produkt der deutschen Geschichte und von Restbeständen an nazistischem Gedankengut, sondern eine Condition humaine. Da tickt das Dorf in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders als eines in den Schweizer Bergen.

Der Common Sense ist allerdings bei Politikern und Journalisten vor allem im öffentlichrechtlichen Rundfunk unterrepräsentiert. Die Journalisten, mit Gehältern und Pensionen in den Funkhäusern gut versorgt, halten an ihren Überzeugungen fest.

Die Politiker, auf die Bestätigung durchs Volk angewiesen, kommen hingegen ins Grübeln. Sie wissen, dass von dem Gerede über Brandmauern nichts übrig bleibt, wenn sich die AfD auf Dauer im Osten als stärkste Partei und im Westen als die eigentliche Opposition etabliert.

Natürlich wird es dann irgendwann Absprachen mit Björn Höcke und den Halb-Nazis geben. So wie sich die SPD 1994 in Magdeburg von Kommunisten «dulden» liess, die fünf Jahre zuvor Chris Gueffroy an der Berliner Mauer ermordet hatten. Wer wirklich einen antitotalitären Konsens will, muss die Politik ändern und die Sorgen der Bürger aufnehmen.

Noch geschieht das in einer Weise, die an der Ernsthaftigkeit der Versuche zweifeln lässt. Die CDU offeriert der Regierung unterdessen Gespräche und verweist auf den Asylkompromiss von 1993. Damals benötigte Kanzler Helmut Kohl die SPD jedoch für eine Grundgesetzänderung.

Das ist heute anders. Innenministerin Nancy Faeser braucht die Opposition nicht für eine Verschärfung des europäischen Grenzregimes. Die CDU-Ministerpräsidenten können jederzeit die Sozialhilfe für Neuankömmlinge auf Sachleistungen umstellen, um Deutschland als Zielland für Armutsmigranten weniger attraktiv zu machen.

Schon heute wäre vieles möglich, wenn man nur wollte. So sind die Gesprächsangebote taktische Spielchen, um der Gegenseite die Schuld am Stillstand zuzuschieben. Doch der Druck wächst: vor allem auf die Grünen.

Der Begriff Heuchelei ist viel zu schwach für diese Energiepolitik

Geht es um die Energie, ist das Versagen nicht geringer als bei der Migration. Wegen des überstürzten Atomausstiegs liegt Deutschland auf Platz sieben im dreckigen Klub der Länder, deren Kohlekraftwerke am meisten CO2 pro Kopf ausstossen. Der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energie ist Geldverschwendung, solange die Speicher im Winter fehlen. In den kalten Tagen, wenn man ihn am meisten braucht, steht der Ökostrom nicht zur Verfügung. Dann hilft nur noch Atomstrom aus dem Ausland. Das Wort Heuchelei ist für diese Art von Politik eindeutig zu schwach.

Das Desaster des Heizungsgesetzes hat schlagartig allen Deutschen vor Augen geführt, dass die Bekämpfung der Erderwärmung mit Mehrkosten verbunden ist. Die Versprechungen der Koalition, die Energiewende werde ein lukratives Geschäft, haben beträchtlich an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Die etablierten Parteien haben ausserdem in ihrem anfänglichen Überschwang ignoriert, dass der Klimaschutz die soziale Frage stellt.

Die Mittel- und Oberschichten (zugleich die lautesten Verteidiger der liberalen Demokratie) können sich den Obolus für die Umwelt leisten. Die untere Mittelschicht (in grauer Vorzeit die Wählerschaft der linken Parteien) hat sehr viel mehr Probleme zurechtzukommen. Das alles ist sozialer Sprengstoff – die Gelbwesten in Frankreich lassen grüssen. Bisher kleisterte man in Merkelscher Manier alle Widersprüche mit Geld zu. Diese Methode aus den Tagen des Überflusses in Deutschland gelangt angesichts von Rezession, Inflation und Aufrüstung an ihr Ende.

Was also tun? Auch hier gibt es Anzeichen für mehr Pragmatismus. Bauministerin Klara Geywitz setzte sich in zwei Punkten gegen die Grünen durch: Ökologische Standards dürfen Neubauten nicht übermässig verteuern; und dem Klimaschutz zuliebe wird es keine Zwangssanierungen gegen den Willen der Eigentümer geben. Der vernünftige Teil der Koalition ist weder blind noch blöd.

Wenig wahrscheinlich allerdings ist, dass Kanzler Olaf Scholz dem britischen Premierminister Rishi Sunak nacheifert. Dieser hatte angekündigt, seine Regierung werde darauf verzichten, die Briten zu neuen Menschen umzuerziehen und ihnen klimaschädlichen Konsum – vom Fleisch bis zu Ferienflügen – abzugewöhnen.

Ein solches grundsätzliches Plädoyer für eine Entideologisierung der Klimapolitik ist in einer Koalition mit den Grünen ein Ding der Unmöglichkeit. Denn das würde beinahe zwangsläufig eine Enttabuisierung der Atomenergie bedeuten.

Ist Deutschland wirklich der kranke Mann Europas?

Da die CDU ebenfalls mit den Grünen regieren möchte, ist die bürgerlich-konservative Opposition auch in Klimafragen keine echte Alternative. Die Grünen haben sich eine zentrale Stellung im Parteiensystem und damit eine beträchtliche Vetomacht erarbeitet. Eine grosse Koalition bietet ebenfalls keinen glaubwürdigen Ausweg aus der Pattsituation, weil sie sich zuletzt als reformunfähig erwiesen hat.

Die britische Presse erklärt Deutschland gerne zum «kranken Mann Europas». Angesichts des wirtschaftlichen Zustandes der Insel ist das skurril. Wenn dennoch ein Körnchen Wahrheit in der Diagnose steckt, dann liegt es am innenpolitischen Stillstand der Bundesrepublik. Zumal nicht absehbar ist, wie die europäische Vormacht aus der Selbstblockade herausfindet.

Die AfD wird sich weiterhin als die eigentliche Opposition profilieren, solange die etablierten Kräfte den gordischen Knoten weder in der Migrations- noch der Klimapolitik durchtrennen. In ihrer Hilflosigkeit flüchten sie sich in das Geraune über die schleichende Erosion der Demokratie. Das ist billig und obendrein gefährlicher Unsinn. Die deutsche Demokratie ist kerngesund. Nur die Altparteien sind derzeit handlungsunfähig.

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